Mit sieben Jahren habe ich verzweifelt und erfolglos versucht, Geige spielen zu lernen. Ich habe beim Üben immer falsch gespielt und es nicht gemerkt. Ich wäre eben unmusikalisch, sagte man. Voller Überzeugung habe ich die Meinung aufgesogen, die Erwachsene über mich kund getan haben. Einfach so. Schließlich glaubt man, was man so über sich hört als Kind.
Ab diesem Moment war es vorbei mit der Musik. Ich war eben einfach unmusikalisch und habe mich seither nicht getraut, ein anderes Instrument zu lernen oder zu Singen. Im Schulchor nicht, im Musikunterricht nicht und auch nicht in der Kirche, wo sowieso jeder zweite falsch singt. Die hohen Töne konnte ich nämlich so gar nicht. Das musste etwas mit meiner Unmusikalität zu tun haben. Hätte mir mal damals bloß jemand gesagt, dass nicht jede Frau einen Sopran hat.
Mit 16 habe ich zu Tanzen begonnen. Mit Takt konnte ich immer schon gut. Tanzen war eine meiner Stärken. Ich hab schon viel getanzt in meinem Leben. Standard, Latein, Jazz, Musical, Bauchtanz, Samba, Hula oder Zumba, auf der Bühne, bei Balleröffnungen, im Tanzsaal und beim Tanzmarathon. Niemand hat mir je gesagt ich könne nicht Tanzen. Unmusikalisch war ich trotzdem. Ich habe erst spät gelernt, dass niemand wirklich unmusikalisch ist – genauso wie vermutlich kaum jemand gar nicht Tanzen kann. Alles nur eine Sache der Übung und des Selbstvertrauens, manche sind eben besser in einer Sache, andere weniger gut. Trotzdem kann man etwas lernen. Aber sag das mal einer Siebenjährigen! Der Geigenunterricht damals hat mich genauso geprägt wie die Worte der Erwachsenen.
Ihr gebt eurem Kind sein erstes Selbstbild!
Warum ich das erzähle? Hätte mir damals niemand gesagt, dass ich unmusikalisch bin, vielleicht hätte ich dann irgendwann versucht ein anderes Instrument zu lernen. Flöte vielleicht? Gitarre. Oder Klavier? Wir teilen unsere und andere Kinder automatisch und unbewusst in Kategorien ein. Manche Kinder sind „schlimm“ (blöde Bezeichnung…) und andere „brav“ (also per Definition jene Kinder, die das tun, was wir Erwachsene von ihnen verlangen), manche ungeschickt, unbegabt, unsportlich, unmusikalisch, faul oder sonst was. Während wir das von ihnen und vor allem auch vor ihnen über sie behaupten, glauben sie es und es geht in ihr Selbstbild über. Und in unser Bild von ihnen.
Von Lausbuben, frechen Gören und Tyrannen
Kürzlich hat eine Mutter ihre Kinder in einer von mir gern gelesenen Facebook Gruppe als „Tyrannen“ bezeichnet. Ich musste zwei lesen, um das zu glauben. Ernsthaft? Tyrannen? Denkt ihr so über eure Kinder? Sprecht ihr so über sie? Meine Kinder sind manchmal laut, anstrengend, stellen sich taub und wollen definitiv nicht immer genau, was ich will. Ich fürchte, ich muss euch jetzt die furchtbare Wahrheit aufdecken: es sind Kinder! Kinder sind so und das mit dem „nicht-immer-und-vor-allem-oft-das-Gegenteil-tun-wollen-was-die-Eltern-wollen“ nennt man Autonomiephase. Von mir aus auch Trotzphase, auch wenn es nicht richtig ist. Die kleinen „Tyrannen“, „Lausbuben“, „Gören“, „Prinzessinnen“, „Monster“ oder „Nervensägen“ – wenn ihr so über sie sprecht und denkt, werdet ihr das bald nicht mehr aus eurem Denken verbannen können. Wenn ihr so vor ihnen über sie sprecht, eure Kinder auch nicht.
Wie Susanne es kürzlich treffen beschrieben hat:“ Wenn sie (Anm.: die Kinder) Pullover mit der Aufschrift „Satansbraten“ tragen, ist es, als würden sie Plakate durch die Gesellschaft tragen, die Gedanken über die böswilligen Kinder zementieren.“ Ihr sagt damit also nicht nur lautstark, was IHR über sie denkt (Zwölfjährigen wär das vermutlich schon peinlich …), ihr tätowiert es ihnen auch noch quasi auf die Brust und lasst andere genau das gleiche denken. Im Scherz, versteht sich. Kinder verstehen in dem Alter bloß weder Zynismus noch haben sie Galgenhumor. Kinder nehmen solche Aussagen ernst.
Veraltete Handlungsmuster und Denkweisen
Ich gebe ehrlich zu, auch mir fällt es manchmal nicht leicht, mich gedanklich gemeiner oder abschätziger Zuschreibenden zu entledigen, die mein Gehirn aus Gewohnheit bereitwillig für meine Kinder zur Verfügung stellen würde. Bereitwillig, weil ich es gewohnt bin und so aufgewachsen sind. Früher sprach man von Lausbuben und frechen Gören, kleine Ladies haben zur Begrüßung einen Knicks gemacht und nicht frech zurück geredet. Immer noch reihen sich, wenn ich wütend bin, erlernte stereotype Aussagen über Kinder in meinem Hirn gnadenlos und erschreckend einfach aneinander und warten darauf, von mir ausgespuckt zu werden. Ich habe eine gedanklichen Filter installiert. Ich lerne um. Es ist manchmal anstrengend, aber es funktioniert. Ich möchte nicht so von meinen Kindern denken und schon gar nicht sprechen.
Eure Mutter hat immer recht (!) (?)
Gebt euren Kindern nicht jetzt schon ein Pakerl mit, sie werden sich noch früh genug ihr eigenes Gepäck aufladen. Wollen wir unsere Kinder positiv und liebevoll zu Erwachsenen heranwachsen lassen, brauchen sie eine liebevolle Begleitung. Liebevoll in Worten und Handeln. Wir sind Vorbilder, unsere Kinder sind unser Spiegel. Ich schätze übrigens, auch der Satz “…wie deine Mutter…“ ist so eine Art Self Fulfilling Prophecy in modernen Beziehungen – auch Erwachsene sind nicht immun dagegen. Positive, aktive, motivierte, liebevolle Kinder brauchen genau ein solches Feedback und positive, motivierende Impulse von ihren Eltern. Ihr seid die uneingeschränkt geliebten Menschen, von denen eure Kinder sich bewundernd alles abschauen und lernen, denen sie sehr lange einfach so alles 1:1 glauben. Wie war der Satz meiner Kindheit noch mal? Einer mit recht starkem Automatismus :“Deine Mutter hat immer recht! …“ Echt? Und bei euch?
Liebe Judith – da gebe ich dir absolut recht, Worte machen früher oder später unsere Realität!
Wir sollten das nie unterschätzen, wann – und vor allem schon wie früh – unsere Kinder mitbekommen, was wir über sie sagen. Man denkt, sie spielen so schön miteinander und plaudert mit der anderen Mama … und sie hören alles mit und integrieren es mit der Zeit in ihr Selbstbild. Da macht es absolut Sinn, die eigene Sprache mal zu überprüfen.
Alles Liebe, Vera
Liebe Vera,
… leider musste ich auch viel lernen bis zu dieser Erkenntnis. Ich habe nicht immer im nur positiv mit Freundinnen über meine zwei Damen gesprochen. Bei aller Liebe, das war alles niemals böse gemeint natürlich. Im Nachhinein tut mir das sehr leid, ich kann es nicht mehr ändern, aber ich kann es in Zukunft anders machen.
Liebe Grüße,
Judith
Wunderbar geschrieben!!
Ich kenne einige Mütter bzw.Eltern auf die das zutrifft, leider…Mir tut das dann echt innerlich weh, wenn ich höre wie über die Kinder mit, oft auch in ihrem Beisein geredet wird…
In so einer Situation habe ich schon was gesagt.. bin aber nur auf Unverständnis gestoßen.
Klar sind meine Jungs manchmal anstrengend,hören nicht zu,ignorieren mich,sind laut….Genau es sind Kinder.
Ich liebe meine Jungs so wie sie sind. Und nicht so wie ich sie haben will…
Wobei mir oft schon aufgefallen ist, dass ich im Gespräch mit anderen Müttern meine beiden nicht in den Himmel loben muss…Wie es andere tun…
Liebe Sandra,
ja, da hast du leider recht. Es stößt meist auf taube Ohren, wenn man etwas sagt. Ich mutmaße, es wäre besser nichts zu sagen, weil sich Eltern damit nur gemaßregelt vorkommen („du machst hier etwas falsch mit deinem Kind!“). Ich denke, dass das so oft passiert liegt auch daran, dass man sich nicht bewusst ist, dass die eigenen Worte Kinder so beeinflussen können. Es will am Ende jede Mutter nur das beste für ihr Kind. Ich gestehe, ich war mir zu Beginn auch nicht so bewusst dass es so ist – das Bewusstsein kam mit der Zeit, als ich mich mehr mit dem Thema bindungsorientiertes Aufwachsen begonnen habe zu beschäftigen, weil dazu auch sehr viel Selbstreflexion gehört. Die Wirkung auf die eigenen Kinder merkt man ja oft erst sehr viel später…
Liebe Grüße,
Judith
Liebe Judith
Vielen Dank für Deine Worte. Mir geht das so oft im Kopf herum – wenn die Frau in der Bücherei meine Tochter „Prinzessin“ nennt, oder eine Frau im Bus mein Baby auffordert, ein „liebes Mädchen“ zu sein und aufzuhören zu weinen. Manches ist im Scherz daher gesagt, und ich bin mir immer nicht sicher, ob ich widersprechen soll.
Meist hoffe ich einfach, dass unser Einfluss zu Hause groß genug ist.
Was denkst Du über das Gegenteil, also dem Kind zu sagen, dass es gut zeichnen, zuhören, tanzen kann?
Herzliche Grüße
Daija
Liebe Daija,
ehrlich gesagt: ich weiß es nicht, wie es am besten wäre zu reagieren, wenn andere das tun. Das Denken der älteren Frau wirst du vermutlich mit ein paar Wiederworten im Bus nicht mehr ändern können sondern sie damit vielleicht eher vor den Kopf stoßen. Eine jüngere Frau wird vielleicht verstehen, warum deine Tochter keine Prinzessin ist. Obwohl natürlich gerade eine Prinzessin etwas ist, was meine Mädels im Spiel oft sind … Ich habe erstmal bei mir angefangen und hoffe auch auf meinen/unseren Einfluß. 😉 Oma habe ich schon versucht beizubringen, dass der Nikolaus nicht nur zu braven Kindern kommt, sondern einfach zu allen Kindern oder dass liebe Kinder immer „Bitte“ und „Danke“ sagen (was Kinder aber auch ohne diese Aufforderung tun würden, wenn man sie lässt …).
Weil ich im Text mich als konkreten Fall genannt habe mit der Unmusikalität. Ich glaube schon, dass Kinder ehrliches Feedback verdient haben, man muß sie ja über ihre Talente nicht anlügen. Wenn sie nicht so gut Zeichnen können oder Tanzen oder was auch immer, dann ist das auch ok. Aber man sollte sie vielleicht nicht davon abhalten, es trotzdem weiter zu versuchen. Ich bin mir ziemlich sicher, ich hätte ein anderes Instrument gelernt. Ich erinnere mich, wie ich immer auf die Kinder geschielt habe, die Flöte konnten und das auch gerne gekonnt hätte (im Vergleich zu Geige wäre das für mich vielleicht leicht gewesen mit sieben Jahren und damit ein positives Erlebnis?!) Das hat gar nichts mit Loben zu tun, aber es mit „nein, das kannst du eh nicht, das brauche wir gar nicht zu versuchen“ quasi zu unterbinden ist vielleicht auch der falsche Weg. Ich werde mit unserer jüngeren Tochter sicher auch zum Sport gehen, obwohl ich sehe dass sie längst nicht so sportlich ist wie ihre große Schwester. Sie hat andere Leidenschaften und Talente, aber es macht ihr Spaß, obwohl sie es nicht genauso gut kann. Und das wäre doch das Ziel, oder?
Liebe Grüße,
Judith
Liebe Judith,
in der Regel widerspreche ich nicht. Mittlerweile rede ich hinterher mit meiner älteren Tochter manchmal darüber, wenn ich mit einer bestimmten Aussage nicht einverstanden bin. Vor Weihnachten habe ich ihr zum Beispiel versichert, dass sie in jedem Fall Geschenke bekommt; sie war sich nicht sicher, was genau es mit dem „brav sein“ auf sich hat.
Zum anderen Punkt – ja, ich glaube auch, dass es bei Kindern vor allem darum geht, dass Aktivitäten ihnen Freude bereiten. Bei mir selbst merke ich manchmal auch, dass dieses Thema „Begabung“ auch dazu geführt hat, dass ich mich in bestimmten Gebieten einfach auch nicht angestrengt habe, wenn mir gesagt wurde, ich hätte kein Talent dafür. Sprachen sind ein Beispiel, bei dem mir ein Lehrer mal gesagt hat, ich sei darin nicht gut genug fuer das Gymnasium. Im Nachhinein denke ich eher, dass ich in dieser Hinsicht „durchschnittlich begabt“ bin; hätte der gleiche Lehrer mir gesagt, ich müsse einfach etwas mehr üben hätte das sicher allen Beteiligten mehr gebracht.
Was nicht heissen soll, dass wir uns mit etwas herumquälen müssen, dass uns keinen Spass macht.
Hast Du eigentlich später noch einen Versuch gewagt, ein Instrument zu lernen, oder singst Du heute mit Deinen Kindern?
Herzliche Grüße
Daija
Genau so habe ich es gemeint. Ich gebe dir völlig recht.
Und übrigens ja, ich habe mit 17 Gesangstunden und Stimmbildung genommen. Mit Begeisterung. Auch, wenn ich sicher nie so gut wie andere war, aber es war nur zum Spaß. In Wirklichkeit singe ich letztlich gar nicht so schlecht (wie so viele) und ich singe auch mit meinen Kindern total gerne. Ein Instrument habe ich nicht mehr gelernt – Tanzen ist allerdings auch ein sehr schönes Hobby 😉
Liebe Grüße,
Judith
Liebe Judith,
danke für diese (für mich neue) besondere Denkweise, ich werde versuchen meine Kinder besser zu erziehen als das bei mir „gelungen“ ist. Danke für deinen Denkanstoß! Die erwähnten Muster kenne ich zu Genüge, aus meiner Kindheit und meiner eigenen Erziehung, leider. Ich werde wirklich versuchen deine Tipps Schritt für Schritt umzusetzen!
Liebe Grüße aus dem Waldviertel
Stefan
Lieber Stefan,
ich denke einfach, man hat sich früher nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Meine Mama hat sicher ihr bestes gegeben und ich habe mich immer geliebt gefühlt. Ich freu mich, wenn ich neue Anstöße liefern kann 😉 Du brauchst deine Kinder vielleicht gar nicht so viel „erziehen“. Wenn wir sie lieben, sinnvolle Grenzen aufzeigen (und nicht einfach nur, was uns gerade einfällt, weil es passt), wertschätzend mit ihnen umgehen und ihnen Vorbilder sind, werden aus ihnen sicher selbstbewusste und ebenso wertschätzende Erwachsene. Da bin ich mir sicher. Ich bin immer noch erstaunt, wie selbstverständlich meine zwei Damen sich bedanken und „Bitte“ sagen, obwohl ich sie wirklich nie dazu aufgefordert habe … Hätte ich früher nicht geglaubt, wenn mir das jemand gesagt hätte. Ich habe es einfach probiert …
Liebe Grüße,
Judith
hallo 🙂 … worte, spreche, kommunikation – aber vor allem „sprache“ ist schon lange, lange mein thema … SPRACHE SCHAFFT REALITÄT – ODER BILDET DIESE AB … was den kern deines themas „über andere (deine kinder) reden“ trifft … (darum bin ich auch sehr sensibel was die ausdrucksweise in unserer herrengesellschaft betrifft – aber das ist ein anderes thema) … es ist auch etwas sehr wichtiges, wenn man mit menschen arbeitet (so wie ich), hat auch viel mit würde zu tun … und damit, dass gewalt als erstes in der sprache (und nicht zu vergessen: davor im denken) ihren niederschlag findet … und die eigenen kinder … ja … „wenn man etwas oft genug hört, dann glaubt man es auch“ ist u. a. gerade das thema in meiner ausbildung (lebens- und sozialberatung, davor war ich im sozialen betreuungsbereich) – und das kann man positiv nutzen für verschiedenste suggestion, aber es wirkt eben auch negativ, bzw. prägend (wenn es um haltungen, sichtweisen geht) … somit habe ich schon lange eine bewusste (und differenzierte) sprache, und es bestätigt sich mir immer wieder (v. a. auch beruflich), dass das „ka unnötiges gschiss is“ … und mittlerweile kann ich auch schon die früchte dieser haltung ernten, wenn ich meine tochter (9) so dieses und jenes reden höre … natürlich halte ich diese art zu reden, die ja mittlerweile ein teil von mir ist, nicht „24/7“ – aber das bewusstsein dafür ist immer da … was ich auch sehr wichtig finde (kinder zu lehren) ist differenzierung: die unterscheidung von wahrnehmung / interpretation / wertung (die sich dann sprachlich ausdrückt) … als mein kind noch klein war – also in ihren redeanfängen – war mein wichtiges wort, wenn etwas (quasi negativ) auffiel: „komisch“ – „das ist komisch“ … das ist bis heute ein wichtiges wort, weil man damit erst mal sagen kann „ich hab da was bemerkt“, ohne es noch / gleich bewerten zu müssen … hmmm … soviel mal dazu so auf die schnelle … noch bzgl. anderer eltern und ihrer ausdrucksweisen – das ist ein eigenes kapitel, und ich denk da gibts nur zwei dinge – mit den unangenehmen möglichst keinen umgang haben, und vor allem: einfach vorbild sein … hmmm … liebe sonjagrüsse!
NS: abschließend/weiterführend fällt mir noch „mein max frisch“ ein –
dieser text von ihm ist für mich ganz wesentlich:
DU SOLLST DIR KEIN BILDNIS MACHEN (Max Frisch)
Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. EBEN DARIN BESTEHT JA DIE LIEBE, DAS WUNDERBARE AN DER LIEBE, DASS SIE UNS IN DER SCHWEBE DES LEBENDIGEN HÄLT, IN DER BEREITSCHAFT, EINEM MENSCHEN ZU FOLGEN IN ALLEN SEINEN MÖGLICHEN ENTFALTUNGEN. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfassbar ist der Mensch, den man liebt – Nur die Liebe erträgt ihn so. Warum reisen wir? Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen ein für alle Mal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei -Es ist ohnehin schon wenig genug. Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedes Mal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind – nicht, weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muss es sein. Wir können nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei. ,,Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: ,,wofür ich dich gehalten habe.“ Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. […]
Irgendeine fixe Meinung unsrer Freunde, unsrer Eltern, unsrer Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt es sich nicht. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirne gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung bringt. Dabei muss es sich durchaus nicht im geraden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluss, darin, dass man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den andern. […] In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die andern in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm, dass er sich wandle, oja, wir wünschen es ganzen Völkern! Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Wir selber sind die Letzten, die sie verwandeln. Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben der Spiegel unsres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer. (Max Frisch, Tagebuch 1946-1949)
„Du hast Dir nun einmal ein Bildnis von mir gemacht, das merke ich schon, ein fertiges und endgültiges Bildnis, und damit Schluss … Wenn man einen Menschen liebt, so lässt man ihm doch jede Möglichkeit offen und ist trotz aller Erinnerung einfach bereit, zu staunen … wie anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis, wie Du es Dir da machst.“ (Max Frisch, Stiller – Julika an Stiller)
Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen – ausgenommen, wenn wir lieben. (X.)
Danke liebe Sonja, du hast völlig recht. Drache schafft Realität, ja, das ist auch einer der Gründe, warum ich Gendern nicht für unnötig halte. Auch, wenn in der Vergangenheit so ein Tamtam darum gemacht wurde, dass es auch viele Frauen schon so nervt, dass sie es unterlassen. Es wird nich umgehend wirken aber in Zukunft und hoffentlich dauerhaft. Ich hoffe auch, dass ich durch sensiblere Sprache meinen Kindern etwas beibringen kann. Mir ist es teilweise sehr schwer gefallen, mir Redewendungen wieder abzugewöhnen, die durch meine Erziehung einfach sehr tief gesessen sind … das möchte ich ihnen gerne ersparen.
Liebe Grüße,
Judith
Liebe Judith,
Danke für diesen Text. Ich habe eine Bekannte, die über ihre Kinder (auch wenn diese dabei sind) immer als „Hosenscheisser“ spricht und es bricht mir das Herz. Wie kann ich am besten etwas sagen?
Hallo!
Das finde ich ganz schwierig, aus mir fällt es sehr schwer, andere auf so etwas anzusprechen. Man läuft dabei leide immer sos schnell in Gefahr, dem Gegenüber das Gefühl zu geben, man will sie kritisieren (was nur eine Verteidigungshaltung hervorruft). Wenn es eine gute Bekannte ist, könntest du sie einfach mal direkt darauf ansprechen warum sie das macht und es so zum Thema machen? Aus reinem Interesse. Ich mache es oft so, dass ich einfach nachfrage, warum meine Freundin etwas so macht, wie sie es macht – das finde ich halbwegs unverfänglich und man kann es dann im Gespräch thematisieren, ohne unhöflich daher zu kommen. Mit viel Feingefühl natürlich.
Liebe Grüße,
Judith
Ich bin, was du mich *heißt* !!! Mit ß! Nach einem Zwielaut gibts kein ss, auch nicht nach der „neuen“ Rechtschreibung!
Das ist richtig. Allerdings lässt die Schriftart, in der meine Titel angeführt sind, das „ß“ nicht zu. Ein Ärgernis, dass ich bisher nicht so einfach beheben konnte. Aus dem Grund verwende ich in meinen Titeln alternativ immer „ss“ statt „ß“, wenn es notwendig ist. 😉
Liebe Grüße,
Judith
Liebe Judith, DANKE.
Beim Lesen hatte ich ein Brain-Popup. Meine Tochter ist so ein „typisches“ Mädchen mit Kleid und rosa und glitzer und…. Ich das komplette Gegenteil.
Jetzt bin ich zur Erkenntnis gekommen, dass diese Kontraste sehr wertvoll sind, da sie dadurch die Möglichkeit hat viele Facetten kennenzulernen und zu leben.
Das ist definitiv ein riesen Geschenk!
lg Miriam
Liebe Miriam,
ich weiß hier auch nicht, woher meine Tochter ihre Obsession für Kleider hat. Ich trage so gut wie nie welche 😉 Ich denke mir außerdem immer, sie verändern sie sich noch so oft bis sie erwachsen sind… Aus der „Prinzessin“ wurd mit 8 vielleicht eine Sportlerin, mit 12 ein kleiner Punk und mit 16 eine straighte junge Frau. Wer weiß, was die Pubertät noch mit ihnen macht, bis sie die Person gefunden haben, die sie sein wollen. Ich versuche jetzt eben mit all den stereotypen Bezeichnungen hinter dem Busch zu halten, seit ich festgestellt habe, wie sehr das beeinflussen kann. Aber sein dürfen sie all das natürlich trotzdem 😉 Liebe Grüße! Judith
Liebe Judith,
ich teile deine Meinung, auch ich beschäftige mich mit dem Thema „Beziehung statt Erziehung“ im Sinne von Jesper Juul seitdem unser Sohn ca. zwei Jahre geworden ist. Wie wir unsere Kinder beschreiben, von Ihnen reden ist zweifellos maßgebend. Auch ich wurde als nicht musikalisch und ohne Taktgefühl bezeichnet, mit ähnlichen Folgen wie bei dir.
Was ich jedoch sehr schwierig finde ist die tatsächliche Verwendung der neuen Sprache. Satansbraten, Hosenscheißer und Tyrannen sage ich nicht, aber Prinzessin oder Lausbub sind in meinen Augen nicht schlimm und ich verwende sie auch gerne. Wahrscheinlich sind sie nicht Gender-korrekt und sie kategorisieren, aber ich würde unser Mädchen auch als Schlingel bezeichnen. Wenn ich nun ganz ohne Wertung von unseren Kindern reden müsste, könnte ich nur noch mein Junge oder mein Mädchen sagen (oder eben ihre Namen verwenden). Anderseits sollten wir von den Kindern reden auch nicht nur positiv reden oder immer nur loben. Kosenamen verniedlichen wiederum.
Ich denke wir können und sollen ruhig die ganze Palette unserer Persönlichkeit sowie Befindlichkeiten auch in der Sprache wiederspiegeln. Wir sind alle multiple Identitäten (ich bin z.B. Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester… usw.) und haben verschiedene Launen. Mal bin ich im Augen meines Sohnes die böse Mama, mal bin ich die liebe Mama. Genauso ist er manchmal ein Lausbub und ein anderes Mal ein braver Junge. Was spricht dagegen dies auch zum Ausdruck zu bringen?
Liebe Grüße
Anita
Liebe Anita,
in kleinen Dosen natürlich nichts, denke ich. Aber ich möchte hier natürlich auch ein bisschen zum Umdenken anregen – das ist ein Grund, warum ich oft auch ein wenig extreme Beispiele bringe. Und ich muß aus Erfahrung sagen, dass man manchmal zu sich auch recht restriktiv sein muß, um sein Denken umzustellen. Ich habe früher manche sehr bedenklichen Phrasen ohne Bedenken gesagt. Das tue ich nicht mehr, seit ich mir bewusster bin, was Wörter anrichten können, ohne dass es einem sofort auffällt.
Worauf ich mich beim Reden über unsere Kinder vor den Kindern beziehe ist auch eher nicht das positiv über die Kinder reden und sie nur loben sondern eher das über sie herziehen. Sie stehen oft daneben und hören passiv mit – ich finde es selbst nicht ok, wenn jemand der neben mir steht blöd über mich redet und mich dabei nicht einmal mit einbezieht. Unterbewusst wird mich das beeinflussen und vor allem auch sehr ärgern.
Liebe Grüße,
Judith
Ich nochmal … Dieser Artikel hat soviel wahres in sich und dann gibt es noch die „anderen“, die Kindern Labels aufdrücken: Mit-Eltern, Kameraden, Aufsichtspersonen. Es beginnt früh, hört aber fast nie auf – besonders in einer Umgebung, in der ohnehin niemand Zeit hat. Da gibt es den Rüpel, die Lügnerin, die Familie aus dem Sozialbau; wie schnell sind Kinder in einem dieser Umschreibungen gefangen und kommen da nicht mehr raus. Und doch ist z.B. im Kindergarten zumeist eine akute Überforderung des Beißers, der Kratzerin oder des Schlägers und klar ersichtlich: es gibt „Opfer“, denen sicherlich auch Trost zugesprochen werden muss, aber das eigentliche Problem hat das Kind, das versucht auf sich aufmerksam zu machen, mißverstanden und mit Sicherheit für seinen Hilfeschrei auch noch gemaßregelt statt getröstet und begleitet wird … ein weiterer Aspekt in unserem Zusammenleben, der sicherlich auch ein Augenmerk benötigt.
Viele Grüße aus Frankfurt von Christine