Berlin vor ein paar Wochen. Ich sitze einer Mamabloggerin gegenüber, die ich noch nicht kenne. Sie bloggt zum Thema Unerzogen. Ich so:“Wow, sehr spannendes Thema! Unerzogen, das ist etwas, was ich nicht schaffe.“ Sie:“Da gibt es nichts zu schaffen.“ Ich schweige, schmunzle und denke:“Stimmt prinzipiell, ABER: DOCH, tut es!“
Im Prinzip ist es ja völlig egal, um welche Strömung, Lebenseinstellung oder Methode in Sachen Aufwachsen oder Erziehung es sich handelt. An jeder Ecke lesen Eltern, wie es richtig geht, was man tun sollte und vor allem: WAS NICHT! Überwiegend bekommt man nämlich vor Augen gehalten, was man als Eltern falsch macht und nicht, was richtig ist. Fies und hinterhältig schleicht sich also ein Bild ein, wie Familienleben und Aufwachsen auszusehen hat und BÄM! – hat man ein schlechtes Gewissen, wenn man es nicht so hinbekommt. Nicht schafft. Nicht schafft im Sinne von nicht so macht, wie es empfohlen wird. Wie es die Nachbarin oder beste Freundin beschrieben hat oder sogar: wie es in der Zeitung steht!
Entwarnung: das tägliche Scheitern ist völlig normal!
Die Verunsicherung unserer Generation Eltern ist groß. Natürlich sind wir Menschen nun per se unvollkommen in unseren Handlungen und damit genügen wir nur selten den Ansprüchen, die wir an uns stellen. Es fehlt in Ermangelung familiärer Strukturen an allen Ecken an Geduld, Erfahrung, Ausdauer, nicht aber an Willen. Man will so viel umsetzen, „scheitert“ jedoch in den eigenen Augen bei jedem zweiten Schritt. Wobei scheitern ein hartes Wort ist. Eigentlich wissen wir ja, dass Scheitern zu einer gesunden Entwicklung dazu gehört – also auch zu unserer eigenen Entwicklung zu Eltern. Reden wir nicht davon, dass Kinder Frustrationstoleranz erst erlernen müssen? Frust entsteht dadurch, dass etwas nicht läuft wie geplant, wie wir es uns vorstellen, es wollen und ist in Wirklichkeit ganz normal. Nur, dass wir Eltern damit schon ein bisschen besser umgehen können (sollten, müssten) als unsere Kinder. Die haben dafür noch eine ganze Autonomiephase lang Zeit. Wie ein Teenager stoßen wir uns unsere Hörner ab und finden Schritt für Schritt heraus, was das richtige für uns und unsere Familie ist. Wir werden erst als Eltern geboren, wenn unsere Kinder zur Welt kommen. Haben wir mehrere Kinder sogar mehrmals, denn jedes weitere Kind verändert die Konstellation in der Familie und bedeutet einen Neuanfang. Wir werden nicht in einer Sekunde zu Eltern, es ist eher eine jahrelange Entwicklung.
Mutter sein: wir genügen nie – woher kommt das?
Egal wie man es anstellt: man genügt sich niemals und schon gar nicht den Ansprüchen der Gesellschaft. Sehr oft nicht als Mensch und schon gar nicht als Eltern. Schockierend, aber wir sind es ja auch nicht anders gewöhnt. Es ist sogar wirklich leicht zu erklären, woher dieses Verhalten kommt und warum es uns so schwer fällt, es abzulegen.
Schreibt ein Schüler eine Drei, so hätte er in den Augen der Erwachsenen bestimmt noch den einen Punkt auf eine Zwei mitnehmen können, hätte er eine Zwei, so wäre es nicht mehr weit zur Eins. Und hat er dann mal eine Eins, so hätte er eigentlich mit noch mehr Engagement vielleicht sogar alle Punkte bekommen können. Laufen wir die 60 Meter in sechs Sekunden (keine Ahnung, kommt das hin?), so schaffen wir es beim nächsten Mal hoffentlich noch ein bisschen schneller. Der vierte Platz beim Kinderschirennen ist undankbar, nächstes mal bitte ganz oben am Stockerl und ganz ehrlich, wer möchte die Schule schon mit einem guten Erfolg abschließen, wenn er einen sehr guten haben könnte.
Gut ist niemals gut genug – so bekommen Kinder es zumindest von Erwachsenen mit. Und die können leider nicht differenzieren, wie ernst oder eben nicht ernst unsere Wettbewerbsgesellschaft zu nehmen ist. Es geht immer noch potentiell ein bisschen besser – sagen zumindest Erwachsene, wenn Kinder eine gute Leistung stolz nach Hause tragen. Seht ihr, was ich meine? Wir genügen nie und das wird uns von klein auf eingetrichtert. Weshalb sollten wir es also als Erwachsene so einfach ablegen können?
Dummerweise legen wir dieses Verhalten nicht ab, wenn wir älter werden. Es ist eingeimpft. Und dann hören und lesen wir, was wir nicht alles falsch machen können und am Ende genügt man sich als Eltern selbst nicht. Ein Teufelskreis. Das gemeine daran: bei den Kinder geht der Wettbewerb dann wieder von vorne los.
Das hilft dir, die eigenen Verhaltensweisen zu überdenken und zu ändern:
- Steh zu deine Weg! Werde die Mutter, die du sein willst!
Es ist dein Weg! Es ist schön, wenn du dich informierst, liest, recherchierst und vielleicht Rat von anderen Eltern einholst. Aber es ist Dein Weg und du darfst selbst entscheiden, was du in Sachen Aufwachsen für deine Kinder für richtig hältst! Es ist völlig egal, was andere davon halten – so lange du nicht fahrlässig oder gewalttätig handelst ist es sozusagen „dein Bier“, wie du deine Kinder „erziehst“ oder es nicht tust. - Denn: du willst und tust vermutlich immer das beste für deine Kinder und wirst nach deinen allerbesten Möglichkeiten handeln! Sei dir dessen bewusst! Auch wenn du die Geduld verlierst oder „stolperst“.
- Wir tragen die Antworten in uns selbst!
Wenn du etwas an deinem Verhalten möchtest, musst du dich selbst fragen, woher dein Verhalten oder deine Reaktion kommt. Diese Fragen sollten immer wertfrei sein und von dir selbst wertfrei beantwortet werden. Du selbst willst dich für nichts verurteilen – darum geht es nicht! - Deshalb: Reflektiere. Oft!
Übrigens meine ich mit der Feststellung“ Wir genügen uns nicht“ nicht, dass mich selbst permanent schlechtes Gewissen plagt. Ich reflektiere schon lange sehr viel darüber, wie ich mich in manchen Situationen verhalte und warum. Um einige meiner Verhaltensweise überhaupt ändern zu können, habe ich sehr viel darüber nachgedacht, wie ich als Kind behandelt wurde, wie ich gehandelt habe und wie ich mich in Situationen gefühlt habe. Ich stelle mir manchmal die Frage: „Wie wäre es mir als Kind damit gegangen?“ Wie hätte ich regiert?“. Unsere Erfahrungen prägen uns, egal wie weit sie zurück liegen und wir handeln sehr oft aus unterbewussten Erfahrungen heraus. Meist kann ich Handlungsweisen (oder etwas auch Wut, Unsicherheit, Traurigkeit, …) nur ändern, indem ich herausfinde, was der Ursprung dieser Reaktion ist. Will ich etwas ändern, muß ich also manchmal Ursachenforschung betreiben und ehrlich reflektieren. Alles andere wäre nur eingelernt und antrainiert, damit langfristig wenig effektiv und auch sehr anstrengend (weil du dann jemanden „spielst“, der du nicht bist). - Fragen stellen!
Sich selbst Fragen zu stellen weckt euren Geist. Durch Fragen und durch Hinterfragen ermöglichst du dir selbst ein lösungsorientiertes Denken und die Möglichkeit zu neuen Erkenntnissen und Einsichten zu gelangen. Das schöne daran: neue Gedanken und Ideen sind auch ein Erfolgserlebnis. Du hast neue Lösungen entdeckt – vielleicht genau die, nach denen du gesucht hast. Vielleicht genau die, die perfekt zu euch passen! - Sei konsequent, wenn es darum geht, dich daran zu erinnern, dass du etwas ändern möchtest, was du ändern möchtest und weshalb. Änderungen brauchen Übung und damit auch Konsequenz. Fällst du in alte Muster zurück, die dir nicht gefallen, mach eine Pause. Atme durch. Denk kurz nach, erinnere dich daran, was dir besser gefällt (als z.B. dein Kind anzubrüllen). Niemand erwartet, dass das beim ersten Mal klappt. Wird es nicht. Aber vielleicht beim fünften Mal. Es wird auch nicht immer funktionieren. Aber oft genug.
- Menschen machen manchmal Fehler. Verzeih sie dir. Verzeih dir, verzeihe deinem Kind, Partner, der Freundin und entschuldige dich im Fall des Falles. Bei Erwachsenen wie bei Kindern.
- Erinnere ich daran, dass du für deine Kinder die beste Mutter bist, die du sein kannst! Jeden Tag!
Die Rosinen im Apfelkuchen
Ich habe also für mich beschlossen, ich werde mir aus all den Wegen des Kinder beim Aufwachsen Begleitens die Rosinchen herauspicken, die für uns am besten passen und so meinen Weg zu gehen. Diese Erkenntnis hat mich fast fünf Jahre gekostet, aber natürlich ist es dafür nie zu spät. Manche Eltern finden ihren weg schneller als andere, einige erkennen ihn schon wenige Tage nach der Geburt. Ich war tendenziell immer schon ein „Spätzünder“, das ist mir bewusst. 😉
Ab dem Zeitpunkt, wenn du deinen Weg gefunden hast, wirst du entspannter sein. Situationen, die dich früher wahnsinnig gemacht haben, stressen dich ab sofort weniger (wirklich!). Manche Dinge, die die Menschheit für so unfassbar wichtig erachtet (Ich sage nur „Bitte“ und „Danke“!) sind so gar nicht weltbewegend und klappen auch ohne Streß und Zwang. Du bist keine schlechte Mutter, wenn du deinen Kinder nicht sagst, sie müssen höflich sein. Oder wenn sie einmal im Monat nicht die Zähne putzen. Das ist deine Entscheidung! Abgesehen davon werden sie das automatisch lernen (wenn du es ihnen vormachst).
Mach mit! Wir teilen unsere Erfahrungen!
Um solche Themen zu klären und zu diskutieren, hab ich übrigens die Facebook-Gruppe „Einfach | Entspannt | Eltern sein“ gegründet. Wenn du dich auch gerne mit bedürfnisorientiertem Aufwachsen und Familienleben beschäftigst und noch nach deinem Weg suchst oder anderen dabei helfen möchtest, dann schau doch vorbei!
Weiterlesen
Erziehung: Wo bleibt das Gefühl? Die Grenzen von Attachment Parenting, Unerzogen und Co. (und über eigene Wege und wahre Begegnung) bei Mini and Me
50 Alltagstipps für geborgenes Aufwachsen bei Geborgen Wachsen (immer anwendbar: „Hör auf dein Bauchgefühl!“)
Allgemein das fantastische Blog von Das gewünschteste Wundschkind. Weil so komplexe Themen oft einfach so wertfrei behandelt und erklärt werden, wie es sein sollte.
Das gleiche gilt auch für das Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn*“, das viele Antworten gibt auf Vorkommnisse des täglichen Familienlebens und viele Dinge so viel einfacher verstehen und gelassener nehmen lässt.
Ruth von Unerzogen Leben schreibt neben ihren Kursangeboten einen wundervollen Blog. Ihr müsst nicht Unerzogen Leben, um den Beiträgen Sinn abgewinnen zu können! … 😉
Eine wundervolle Sammlung von Blog-Beiträgen zum Mama-Bauchgefühl findet ihr bei What a lovely Day.
Darunter natürlich auch mein Beitrag zum Thema „Hör auf dein Bauchgefühl!“
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Hallo Judith, ein toller Artikel!
Schlussendlich kann man es ja sowieso nie allen recht machen – dann kann man als Mutter/Eltern auch gleich das tun, was man selbst für richtig hält… 😉
Regine
Wo ist denn im WordPress dieser „Daumen hoch“ Button, wenn man ihn braucht 😉
Da müssen wir uns wohl mit so etwas Altmodischem wie einem Text-Kommentar behelfen, wenn wir etwas gut finden… 😉