Bevor man Kinder bekommt ist man normalerweise ExpertIn für Kinder. Es gibt gewisse Zeitpunkte, da kann ein Kind laut Tabelle etwas, lernt neues, profiliert sich quasi. Man ist informiert, kann es fast auswendig. Ist das nicht so, bricht Panik aus. Was wir nämlich erst lernen, wenn wir Kinder haben: jedes Kind hat sein eigenes Tempo. Wachsen, Drehen, Gehen, Sprechen, Radfahren, Schwimmen, Lesen, … egal wofür. Kinder lernen aus Begeisterung, nicht, weil wir es wollen.
Es gibt für alles Vermerke in Tabellen. Vermessen und festgelegt von Kopf bis Fuß sind unsere Babys. Auch für den Zeitpunkt, wann dein Kind zum ersten Mal lächeln sollte. Ja, sogar dafür. Oder für das Kopf halten können. Dann Rollen, Krabbeln, Essen, Laufen und später Radfahren, Schwimmen, Lesen, Schulabschluss, Job, Gehaltszettel, Aufstieg, whatever. Man kann ja alles vergleichen, von der Penislänge bis zum „fetten“ Auto.
Später werden Pädagoginnen nicht müde, aufzuzeigen, wenn etwas nicht laut Plan läuft. Sehr wichtig für Kinderärzte: wenn Kinder „ein klein wengal“ unter oder über dem entsprechenden Perzentil liegen. „Passen Sie bloß auf, was sie ihr zu essen geben, sie ist schwer für ihr Alter!“ Ähm, sie haben groß (!!) vergessen und ich stille sie fast voll, Lady. Sie war damals sieben Monate alt. Beim ersten Kind hätte ich in Panik vielleicht aus Unsicherheit eine Muttermilch-DIät eingeläutet.
Kinder sprechen nicht nach Plan, Laufen nicht, wie es Tabellen vorschreiben und Lernen Radfahren, wenn es Ihnen passt. Im Durchschnitt wird es schon passen, sie entbehren wohl keiner Grundlage, sind in meinen Augen aber als Maßstab aller Dinge irrelevant.
Vermessen und Kontrolliert
Menschen lieben Kontrolle. Ich nehme mich nicht aus. Die wunderbaren Ultraschallbilchen in der Schwangerschaft. „Oh, so groß ist sie schon!“ „Schaut mal, sie lächelt!“ Mit jedem Bild wird aber auch die Welt des Babys im Bauch durcheinandergewirbelt. Die Ultraschallwellen schaden dem Baby zwar nicht, aber stellt euch mal vor, es hüpft jemand auf eure übergroße Luftmatratze und schüttelt euch durch. Ihr schlaft gerade oder chillt und plötzlich werdet ihr gerüttelt. Damit man mehr sieht, drückt jemand auf den Bauch. Und trotzdem empfehlen die meisten Frauenärzte ein „Ultraschall-Abo“. #justsaying
Kinder werden von Kontrolle zu Kontrolle geschleppt. „Was, schon so groß!“ „Dreht sie sich schon um, schaut sie dem Finger nach, hört sie ….?“ Alles gut, sie entwickelt sich laut plan. Ausser, dass die Ärztin sie für moppelig gehalten hat, mein Stillbaby. Beim ersten Kind hätte ich das Mädchen nach dem Kommentar der Ärztin vielleicht noch panisch auf Muttermilchdiät gesetzt (nur Spaß!) Wir sind immer in der Bewertung drin, es fällt uns fast schwer, es nicht zu tun.
Vergleiche sind Bullsh***
Wir wissen, unser Kind ist das beste! Deines auch? Die Älteste konnte mit drei Jahren Rad fahren und Schwimmen. Puh, ich war stolz wie Oskar. Sie wollte eben und schon wurde von außen bewertet. Wir können uns dem Wettbwerb kaum entziehen, er ist allgegenwärtig. Es spricht nichts gegen ein ordentliches Match in egal welcher Sportart. Was wir aber tun können, ist ihm den Einfluß auf unser Denken zu entziehen und aufhören es zu bewerten.
Ich weiß, wir stehen in unserer Gesellschaft permanent im Wettbewerb. Deshalb schreibe ich diesen Text. Es ist schon toll, das weiß ich, wenn man als kleiner Stoppel die Abfahrt runterprescht und mit der besten Zeit ins Ziel rast. Damals bin ich um einen Meter gewachsen quasi – es war toll. Aber es gibt für alles den richtigen Zeitpunkt. Für manche Dinge kommt er später, für manche nie.
Lernen aus Begeisterung nicht für Bewertung
Was unser Schulsystem weder erkannt hat noch „fördert“ ist leider eine Tatsache: Kinder und Erwachsene lernen Dinge erst in oder mit Begeisterung nachhaltig. Und vor allem lernt und kann nicht jeder alles gleich gut. Ich hab zum Beispiel nie Snowboardfahren gelernt. Ich fand es einfach doof. Mathe hat mich ebenfalls nie so sehr begeistert, dafür aber Geschichte, Deutsch, Englisch und vieles andere. Eine Zentralmatura wie hier in Österreich hätte mich damals fertig gemacht, Mathe und Chemie war schon so fast mein Untergang. Aufgesogen wie ein nasser Schwamm habe ich dagegen andere Fächer.
Ich möchte hier noch einmal andre Stern zitieren, über dessen Idee zum Lernen ich bereits in einem anderen Artikel geschrieben habe:
„Wir wissen, dass wir Menschen über alle Grenzen hinaus wachsen können, wenn wir begeistert sind! Die Gehirnforschung nennt die Begeisterung Dünger für das Gehirn. Wir sollten doch enormes Vertrauen haben in das Kind …
Das kleine Kind empfindet einen Begeisterungssturm jede zweite oder dritte Minute. Das sehen wir, wenn wir kleine Kinder beobachten. Das bedeutet, ihr Gehirn badet permanent in einem Düngerbad. Überall. Alle Regionen entwickeln sich. (…) Wisst ihr, wie oft ein Erwachsener die selbe Menge Begeisterung empfindet? Zwei, drei Mal im Jahr.“
Wunderbar und traurig zugleich, oder? Die Hauptaufgabe eines Kindes sollte das Spielen sein. Bloß verkraftet das unsere Gesellschaft nicht, weshalb an jeder Ecke Förderung versprochen wird.
Was bedeutet das für unsere Kinder?
Wir müssen sie selbst entdecken lassen, was sie gut können und was weniger. Es muß nicht zwanghaft gefördert werden, damit sie grundlegende Dinge lernen. WIRKLICH NICHT! Das freie Lernen funktioniert, wir müssten es nur versuchen, trauen es uns aber nicht. Weil es natürlich auf für das Lernen Messlatten und Tabellen gibt. Und die heiß geliebte wie auch gehasste PISA Studie. Unser Schulsystem schreibt recht strikt vor, wer was wann lernen und verinnerlichen soll. Das Geld für teure PISA Studien könnte besser investiert werden als in den europaweiten Vergleich der Lesekenntnisse Zehnjähriger. Leider ist hier eher problem- statt lösungsorientiertes Denken vorherrschend. Es liegt auf der Hand, dass ein jährliches Diskutieren eines bekannten „Problems“ uns wenig weiterbringt, wenn es keine sinnvollen Lösungen dafür gibt.
Mit diesem System ist es für unsere Kinder aber auch schwer, zu entdecken, was sie gut können und was weniger. Sie müssen halt alles lernen und zwar zum gleichen Zeitpunkt. Ob das . gut oder schlecht ist, wird nicht hinterfragt. Aber spätestens mit 18 oder 19 Jahren kann man es dann in der Zentralmatura (hier in Österreich) ganz gut vergleichen. Wieder mal.
Ich würde sagen, es ist nicht verwunderlich, dass so viele Menschen sich auf dem zweiten Bildungsweg erst Mitte 30 für einen neuen Weg entscheiden. Der Zeitpunkt, wenn sie nicht mehr mitmachen wollen im Vergleichswettbewerb. Wenn sie nicht mehr auf die Stimmen hören möchten, die ihnen flüstern, was gut für sie wäre.
Zurück zum Rad fahren
Ich konnte als Kind ganz passabel Rad fahren habe es aber als Teenager nicht oft gemacht. So wirklich gut konnte ich es erst dann wieder, als ich mich dafür begeistert habe und entdeckte, das das für mich DIE Alternative zur Kurzstrecken-Fortbewegung auf zwei Rädern ist. Ich versuche, diese Begeisterung an meine Kinder weiterzugeben. Das hat verschiedene Gründe, vor allem aber hoffe ich, sie haben Freude an der Bewegung und sie es auch mal als Alternative zum Auto sehen.
Dass unsere Älteste sich so früh dafür begeistert hat, war für mich wunderbar. Härter war es dagegen, dass die mittlere so gar kein Interesse hatte. Mama hat ja einen Anhänger, Mama schiebt und zieht mich. Wozu soll ich also? Dieses Jahr war es endlich so weit. Sie wollte. Wir haben ihr ein Woom Bike bestellt, einen neuen Helm und los ging es. Tapfer hat sie geübt, hatte Spaß dabei. Ich liebe es, dass es ihr gefällt, auch wenn sie dafür nicht so ganz die Begeisterung ihrer Schwester teilt. Ich stresse sie nicht, es wird schon.
Ich muß mich zurück nehmen, meine Erwartungen vergessen, den Wettbewerb abschalten. Ich sage nicht, dass das einfach ist, wir sind ja selbst mit einem vermutlich recht starken Wettbewerbsgedanken aufgewachsen. Der Wettbewerb wird weiter gehen: in der Schule, im Beruf, im Leben. Wenn wir es aber schaffen, ihn ein wenig auszublenden, dann ist es leichter, unsere Talente zu erkennen. Das kann man nur, wenn man sich wenig von anderen beeinflussen lässt. Von den Stimmen, die einem ins Ohr flüstern, was denn gut wäre, wenn man kann. Dafür darf ich meinem Kind keinen Stempel aufdrücken, sonst haben sie später einmal keinen klaren Blick darauf, wo ihre tatsächlichen Talente liegen.
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